Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

Rede von Außenminister Heiko Maas zu Europäischer Digitaler Souveränität anlässlich der Eröffnung der Smart Country Convention des Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (Bitkom)

27.10.2020 - Rede

Früher plünderten Kriegsherren nach erfolgreichen Feldzügen die Archive der besiegten Gegner. Sie stahlen dort Besitztitel und Staatsgeheimnisse.

Denn schon immer kämpften Staaten um Daten, schon immer bedeutete die Hoheit über Wissen Macht – das ist keine sehr neue Erkenntnis.

Doch heute braucht es keine Armeen und Kriege mehr, um fremde Archive zu räubern. Es genügen ein paar findige Hacker, um anderen Regierungen binnen Sekunden Datenberge vom Server zu saugen – oder für noch weitaus gefährlichere Cyber-Attacken und Manipulationen in allen digitalen Bereichen. Das ist ein Thema, mit dem wir uns immer mehr auseinandersetzen müssen auf der internationalen Bühne.

Die Digitalisierung hat auch die Weltpolitik grundlegend verändert – und dieser Prozess wird andauern. Wir sehen heute einen neuen Wettstreit – den Kampf um die digitale Vorherrschaft. Und diesen hat die Corona-Pandemie noch einmal deutlich angeheizt.

Im Zentrum dieses Ringens um Bits und Bites steht die Rivalität der zwei Digitalgroßmächte China und USA. Beide konkurrieren um Technologieführerschaft und errichten nichts anderes als virtuelle Mauern. Dem sehen wir uns permanent gegenüber. Es droht die Spaltung des digitalen Raums in eine amerikanische und in eine chinesische Tech-Sphäre.

Und man muss betonen, weil das ja zurzeit viele beschäftigt, dass der Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA in wenigen Tagen daran grundlegend nichts ändern wird – egal, wie diese Wahl ausgeht.

Meine Damen und Herren,
für uns Europäer aber heißt das: Wir müssen uns entscheiden. Und ich sage ganz offen: Für mich ist dabei weder das chinesische noch das amerikanische digitale Modell eine Option.

Denn das eine stellt die Fortschritte der Digitalisierung auch in den Dienst staatlicher Überwachung und Repression.

Und im anderen Modell richten sich die Grenzen dessen, was erlaubt ist, nach meiner Einschätzung viel zu oft danach, was technologisch möglich und wirtschaftlich profitabel ist. Und zwar einzig und allein danach. Dass Unternehmen wie Facebook oder Twitter inzwischen selbst nach klareren Regeln rufen, spricht schon für sich. Und auch das jüngste Vorgehen der US-Kartellbehörden gegen Google zeigt doch gerade, wo die Schwierigkeiten des amerikanischen Modells zu liegen scheinen.

Deshalb bin ich überzeugt, dass Deutschland und Europa ihren eigenen digitalen Weg gehen müssen – und ihre Werte und ihre Interessen auch im digitalen Raum verteidigen müssen. Allein sind die Staaten Europas dafür zu klein – daher bündeln wir unsere Kräfte innerhalb der Europäischen Union. Dazu sehe ich keine vernünftige Alternative. Und diese Europäische Union braucht ihr eigenes digitales Modell – sie braucht digitale Souveränität.

Dabei sind drei Grundsätze aus meiner Sicht zentral:

Erstens zielt europäische digitale Souveränität auf die Entwicklung eigener digitaler Fähigkeiten in Europa. Nicht überall und nicht um jeden Preis. Aber wir müssen über Schlüsseltechnologien selbst verfügen. Erst damit schaffen wir uns nämlich Alternativen und Wahlmöglichkeiten – ohne andere Anbieter von vornherein auszuschließen. Es geht um Souveränität aus eigener Kraft und nicht durch Verbote.

Zweitens basiert das europäische digitale Modell auf Offenheit, Vertrauen und Werten. Sein Markenkern ist Menschenwürde, Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit. Digitalisierung muss den Menschen nützen –Profitmaximierung und das technisch Mögliche allein können für uns nicht der ausschlaggebende Maßstab sein. Zudem bauen wir keine digitale Festung Europa. Kooperation und Vernetzung bleiben unser Grundsatz – nicht Abschottung oder Protektionismus. Das erleben wir derzeit schon viel zu oft auf der Welt. Ein digital souveränes Europa sucht Anschluss mit gleichgesinnten Partnern weltweit.

Drittens braucht es neue Abwägungen bei Regulierung und Sicherheit. Unsere digitale Infrastruktur muss vor allen Dingen eines sein: vertrauenswürdig. Das erwarten die Nutzer und das dient vor allen Dingen auch den wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven unserer Unternehmen. Und wir müssen unsere Abwehrkräfte stärken gegen Cyberangriffe – die wir immer häufiger erleben – und gegen digitale Einflussnahme auf allen Ebenen, auch politisch. Die Gefahren für unsere Demokratien sind längst real geworden – das hat etwa der Bundestag-Hack gezeigt und das sehen wir gerade im amerikanischen Wahlkampf.

Ich freue mich deshalb, dass wir in Deutschland Vorreiter waren im Kampf gegen bewusste Manipulation und auch gegen Hasskriminalität im Internet. Inzwischen ziehen selbst große Plattformen wie Facebook nach, etwa bei antisemitischer Hetze und bei Desinformationen in der Corona-Pandemie.

Meine Damen und Herren,
mein Blick auf Europa ist daher heute deutlich optimistischer als noch vor einigen Jahren. Wir haben viele Schritte in Richtung mehr digitaler Souveränität getan – auch dank der Innovationskraft von Ihnen, der Digitalwirtschaft. Wir dürfen dabei jetzt aber nicht stehenbleiben.

Die EU hat digitale Regulierungsmacht bewiesen. Mit der Datenschutz-Grundverordnung, der viel diskutierten, hat sie global höchste Standards für Datenschutz gesetzt – und damit erfolgreich ein Gegenmodell zum amerikanischen und auch vor allen Dingen zum chinesischen Modell präsentiert. Aber wir müssen aus dem Regulierer EU noch mehr einen Akteur machen, der selbst auf dem digitalen Spielfeld mitmischt. Denn Schiedsrichter gehen selten als Gewinner vom Platz. Souveränität durch Regulierung ist gut und manchmal auch notwendig, Souveränität durch Können ist aber viel besser und das, was wir eigentlich anstreben sollten.

Deshalb nehmen wir gerade in der Krise viel Geld in die Hand: Der zu Beginn unserer EU-Ratspräsidentschaft auf den Weg gebrachte neue EU-Haushalt und der Corona-Wiederaufbaufonds sehen zusammen 200 Milliarden Euro für Digitalisierung vor – besonders für die Entwicklung von Schlüsseltechnologien wie künstlicher Intelligenz, Blockchain und Quantencomputern. Davon profitieren ganz konkret Ihre Unternehmen und natürlich auch die Wissenschaft. Schon heute ist Deutschland jemand, der mitspielen kann in diesem Bereich, etwa als Startup-Hub. Aber ich finde, wir können deutlich mehr.

Zudem arbeiten wir an technologieoffenen, interoperablen europäischen Datenräumen. Diesen Monat haben sich 25 EU-Mitgliedsstaaten in der Europäischen Cloud-Föderation zusammengeschlossen, um ein Regelbuch für eine europäische Cloud zu schreiben. Und an dem deutsch-französischen Cloud-Projekt

GAIA-X sind mittlerweile 350 Unternehmen, Organisationen und Regierungen beteiligt. Das ist ein Erfolg der engen Kooperation in diesem Bereich zwischen Politik und Wirtschaft! Und das müssen wir fortsetzen.

Aber europäische Daten brauchen nicht nur sichere Clouds, sondern vor allen Dingen auch zuverlässige kritische Infrastruktur. Dabei geht es um die Sicherheit jeder und jedes einzelnen von uns – unserer Daten, unserer Kommunikation und am Schluss auch unserer demokratischen Prozesse. Deshalb darf der Preis allein bei zukunftsweisenden Investitionen nicht ausschlaggebend sein. Er wird ohnehin immer ein Faktor sein. Mit dem IT-Sicherheitsgesetz werden wir deshalb auch die Vertrauenswürdigkeit von Unternehmen prüfen, die 5G-Netzwerke in Deutschland entwickeln.

Und davon, meine sehr verehrten Damen und Herren, können gerade europäische Unternehmen dank ihrer hohen Standards profitieren. Das ist keine Vorzugsbehandlung, sondern nichts anderes als die Durchsetzung fairer und gleicher Regeln für alle. Und dass Europa das einfordert und durchsetzt, daran müssen sich so langsam alle gewöhnen, sowohl westlich als auch östlich von uns.

Schließlich hat Europa auch seine Resilienz gegen Cyberangriffe und digitale Einflussnahme gestärkt. Dieses Jahr haben wir in der EU erstmals Sanktionen gegen Personen und Einrichtungen verhängt, die für Cyber-Angriffe in Europa verantwortlich sind. Die Botschaft dabei ist klar: Wir schützen unsere demokratischen Institutionen, wir schützen in der digitalen Welt unsere Daten.

Meine Damen und Herren,
europäische digitale Souveränität mag für manche Ihrer Unternehmen kurzfristig mit Anstrengungen verbunden sein. Aber sie eröffnet auf lange Sicht der deutschen Digitalwirtschaft und Industrie auch international viele Chancen:

Ihre Unternehmen profitieren von sicherer digitaler Infrastruktur, die Ihre Daten und Ihr geistiges Eigentum schützt.

Mehr öffentliche Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation stärken Ihre Wettbewerbsfähigkeit – auf diesem Weg sind wir bereits.

Und mit dem Markenkern des europäischen digitalen Modells – Vertrauen – kann die deutsche und europäische Digitalwirtschaft international punkten. Denn wie in der Realwirtschaft zählt auch in der digitalen Welt längst nicht nur der Preis – sondern eben auch das Vertrauen in Anbieter und Standort.

Und nicht nur für die europäische digitale Souveränität brauchen wir die Unterstützung der Digitalunternehmen in Europa. Das gleiche gilt auch für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung.

Im Auswärtigen Amt treffen heute 150 Jahre Tradition deutscher Ministerialverwaltung und Diplomatie – Vorlagen, Paraphen und Papierakten – auf Twitter, Instagram und – spätestens seit Corona – auch auf viele Videokonferenzen und Homeoffice.

Ich will Ihnen nur drei Beispiele nennen, die zeigen, wo wir stehen Und wo wir in Zukunft weiter Unterstützung brauchen:

Im Frühjahr haben wir über 200.000 wegen der Corona-Pandemie im Ausland gestrandete Deutsche und Europäer innerhalb kürzester Zeit zurück in die Heimat geholt. Das war ein logistischer Kraftakt, wie er in 150 Jahren Auswärtiges Amt noch nie zu stemmen gewesen ist. Und dieser Kraftakt wäre unmöglich gewesen ohne eine Softwarelösung, die ein deutsches IT-Unternehmen quasi über Nacht für uns und mit uns aufgesetzt hat, die angewendet wurde und die auch vorzüglich funktioniert hat.

Mit Social Media-Monitoring-Tools beobachten wir heute die Diskussionen und die Themen in den Sozialen Medien, die morgen die Timelines hochbrodeln. Auch die Technik hierfür stammt von europäischen Unternehmen – weil es gerade bei solchen Technologien auf hohe ethische und rechtliche Standards ankommt.

Weiter nutzen wir heute schon künstliche Intelligenz und Big Data, um Krisen – und von denen gibt es bedauerlicherweise viel zu viele auf dieser Welt – früher erkennen zu können. Denn unser Politikansatz auf der internationalen Bühne präventiv. Wir wollen, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in dem wir zur Zeit sitzen, sich nicht immer nur erst mit Krisen beschäftigt, wenn bereits geschossen wird, Bomben fallen und es erste Tote gibt – sondern früher und präventiv. Wir müssen vorher erkennen, wo Krisen entstehen und dazu beizutragen, dass gar nicht erst geschossen wird und keine Bomben geworfen werden. Meine Kolleginnen und Kollegen verschmelzen dazu öffentlich zugängliche Daten mit unseren internen Analysen. Die dafür notwendigen digitalen Werkzeuge hat das Auswärtige Amt mit deutschen Unternehmen entwickelt. Und KI bleibt in der gesamten Bundesverwaltung ein riesiger Wachstumsmarkt.

Meine Damen und Herren,
trotz des neuen internationalen Wettbewerbs um Daten, Wissen und Technologie: Anders als in der Vergangenheit müssen wir im Auswärtigen Amt in Berlin heute keine Plünderungen unserer Archivkeller mehr fürchten. Stattdessen hat unser Politisches Archiv zuletzt über 18 Millionen Aktenseiten digitalisiert und wird diese online veröffentlichen – transparent für alle Bürgerinnen und Bürger.

Europäische digitale Souveränität verbindet eben solche demokratische Transparenz mit einer menschenzentrierten Entwicklung, unternehmerischer Freiheit und dem notwendigen Schutz unserer Werte und Interessen.

Nur auf diese Art und Weise werden wir Europa fit machen können, sich zu behaupten in einer Großmächtekonkurrenz, die geostrategisch stattfindet zwischen den USA, Russland und China. Wenn wir dort eine Rolle spielen und nicht zum Spielball anderer werden wollen, dann brauchen wir in Europa mehr Souveränität. Und das wird nur über die Europäische Union gelingen. Ein wesentlicher Baustein dieser Souveränität wird die digitale Souveränität sein. Das ist eine politische Notwendigkeit, es ist vor allen Dingen aber auch eine riesige Chance, weil damit wirtschaftlich enorme Potentiale verbunden sind.

Und ich wäre froh und außerordentlich dankbar, wenn bei diesem Weg – den wir eingeschlagen haben und den wir auch weitergehen wollen – Sie und Ihre Unternehmen als unsere Partner an unserer Seite zu wissen.

Herzlichen Dank!

nach oben